Impuls zum 24. Mai 2020
Von Rebecca Burkert, Projektreferentin pax christi Berlin
Der Wunsch nach Planbarkeit
„Schon bevor wir geboren werden, bestimmen Pläne unser Leben. Nach der Familienplanung geht es vom Stundenplan bis zur Karriereplanung in ein durchgeplantes Leben. Die Deutschen sind darin Meister (…).“
So jedenfalls heißt es in einem Audio-Beitrag der Deutschen Welle.
Prof. Dr. Dirk van Laak von der Universität Leipzig schreibt, dass der Ursprung dieser Planungseuphorie in dem aufklärerischen Projekt einer „Planbarkeit“ der menschlichen Umwelt und Geschichte liegt. Der moderne Nationalstaat mit dem Ausbau seiner Infrastruktur, planender Sozial- und Wirtschaftspolitik und seiner komplexen, arbeitsteiligen Gesellschaft scheint Prototyp eines durchgestalteten Gemeinwesens zu sein.
Planungen, so von Laak, gerade solche im öffentlichen Raum, besitzen nicht zuletzt eine symbolische Ebene, mit der politische Handlungsfähigkeit suggeriert wird.
Was aber, wenn sich die Planungen im öffentlichen Raumes durch Uneinigkeit, Zögern und Unsicherheit aus-zeichnen, wenn das Ringen um die richtige Gestaltung anders ist als wir sie kennen, wenn sich der öffentliche Raum gar selbst verändert hat? Parallel zu der Herausbildung einer Planungsgesellschaft entwickelte sich auch der Typus des Planers. Wir, als eine Generation von „Machern“, haben nicht nur den Wunsch nach Gestaltung unserer Umwelt, sondern umso mehr nach der des eigenen Lebens.
Zu planen heißt eigentlich nichts Anderes als Entscheidungen für die Zukunft zu treffen. Ich frage mich, wie wohl unsere Zukunft bis zum Ende des Jahres aussehen wird, wie wir für den Rest des Jahres 2020 planen kön-nen?
Auf dem Spielplatz
Ich bin mit meiner Nichte auf einem Spielplatz im Berliner Stadtteil Alt-Moabit. Sie ist anderthalb Jahre alt und zumindest zurzeit noch Einzelkind. Sie läuft einem 5-jährigen Mädchen hinter, versucht ihre Hand zu halten und sie zu umarmen. Ich hebe sie hoch und lasse sie in Anbetracht der Abstandsregel gut 1,5m daneben wieder runter. Sie schreit, fängt an zu weinen und läuft erneut auf das Kind zu. Verständlich, hat sie in den vergangen zwei Monaten doch nur mit ihren Eltern gespielt.
Im STERN lese ich einen Artikel von Andrea Zschocher, Journalistin und Mutter von drei Kindern. Sie schreibt:
„Wir fünf sind permanent zusammen, vom Aufstehen, bis zum Schlafengehen, das gab es sonst nur im Urlaub. Es gibt keine Pause, nur jede Menge Vertröstungen auf später. Mein Mann und ich wuppen jeweils 40h Arbeit im Homeoffice und drei Kinder im Alter von sechs, drei und einem Jahr. Wir schaffen das, weil wir Erwachsenen dabei komplett auf der Strecke bleiben. […] Wir Eltern rackern uns in einem Hamsterrad der Zuständigkeiten ab, versuchen den Arbeit- und Auftraggebern und unseren Kindern gerecht zu werden. [...] Weil die Kinder zu klein sind, um sich selbst zu beschäftigen, weil die Arbeit volle Aufmerksamkeit erfordert, weil da niemand ist, mit dem die Last des Alltags geteilt werden kann. [...] Inzwischen schreiben die zwei älteren Geschwister Briefe an die Nachbarn im Haus. Sie sind verzweifelt auf der Suche nach Kontakt.“
Eine Leserin appelliert: „Es muss eine Perspektive her; ein Termin, auf den man hinarbeiten kann.“
Aber was bedeutet es, planen oder, wie gerade jetzt, eher nicht planen zu können, eben keine Perspektive oder ein Datum zu haben ab dem alles wieder seinen geordneten Weg geht?
Ich spreche mit einer Freundin, Sozialarbeiterin, und frage sie, warum diese Planbarkeit eigentlich so wichtig ist. Eine grundlegende Tagesstruktur, sagt sie, einen festen Rhythmus zu haben, wann man beispielsweise auf-steht, wann welche Aktivität ansteht, sei essentiell für jeden von uns. Sei es in der Obdachlosen- oder stationä-ren Jugendhilfe, sei es im Altersheim, in Kindergärten, Schulen oder Zuhause mit einem Neugeborenen – eine feste Grundstruktur bietet Orientierung und Sicherheit. Bricht diese Tagesstruktur auf einmal dauerhaft weg, fühlt sich manch einer „nur“ überwältigt, manch anderer stößt an seine Belastungsgrenzen.
Wir brauchen Planung
Ohne die vielzitierte „gesamtgesellschaftliche Aufgabe Corona“ zu relativieren oder aus den Augen zu verlieren, sollten wir anerkennen wie wichtig Kontinuität, Routine und Planbarkeit sind.
Wir sollten denen Hilfe anbieten, für die sich #zuhausebleiben schwieriger gestaltet als für uns selbst, die nach zwei Monaten Lockdown erschöpft und überlastet sind.
Andrea Zschocher schreibt: „Wenn ich lese, dass andere Menschen die Corona-Krise als Chance sehen, dann kann ich nur bitter auflachen.“
Wir denken an...
Wir denken an die Elternpaare und Alleinerziehenden, die sich um Balance zwischen Home-Office und Home-Schooling bemühen;
Wir denken an die Kinder und Jugendlichen, die nicht nur Schule und Kita verpassen, sondern ihren Alltag ver-missen, an die Kleinsten, die oft noch nicht verstehen weshalb sie ihre Freund*innen nicht sehen können;
Wir denken an ältere Menschen, an unsere Eltern und Großeltern, die wir nicht gerne alleine lassen, denen wir aber mit unserem Besuch vielleicht mehr schaden als nutzen;
Wir denken an Patient*innen, die in Ungewissheit verbleiben, ob ihre Behandlungen und Operationen stattfinden können;
Wir denken an die Paare, die sich auf ihre lange geplante Hochzeit gefreut haben;
Wir denken an die Selbstständigen, an Friseur*innen, an Restaurant- und Cafébesitzer*innen, die mit Einnahmen geplant haben und bangen, ob sie sich den Rest des Jahres über Wasser halten können;
Wir denken an die, denen die Gestaltung ihres eigenen Lebens gänzlich aus den Händen gerissen wurde, an die, die vor Gewalt, Krieg und Hunger fliehen.
Wie töricht ist es, Pläne für das ganze Leben zu machen, da wir doch nicht einmal Herren des morgigen Tages sind.
Lucius Annaeus Seneca